Judith Sotriffer, die Spielzeugmacherin
Rosa Wangen, blaue Augen schwarzes Haar, ein Teint wie Meissener Porzellan – so sitzt sie im Schaufenster und baumelt mit den grazilen, weiß bestrumpften Beinen. Die Grödner Puppe ist eine Schönheit, die nicht lange unentdeckt bleibt. „Mama, Mama“, ruft ein Bub, während er sich die Stupsnase an der Scheibe flachdrückt, „Mama, schau!“ Und die Mama schaut, wenn auch nur kurz, bevor sie den Kleinen mit Nachdruck weiterzieht.
Dabei gäbe es viel zu sehen in der schlichten Galerie im Zentrum von St. Ulrich im Grödnertal. Zum Beispiel Judith Sotriffer bei der Arbeit. An einem klobigen Holztisch malt sie der Grödner Puppe ihr madonnenhaftes Lächeln ins Gesicht und bepinselt rotbauchige Pinocchios und bunte Harlekins. Die 46-Jährige tut dies in guter Tradition, lebten die Bewohner des Grödnertals doch über Jahrhunderte von Altarbau, sakraler Bildhauerei und der Herstellung von Holzspielzeug.
Weit herumgekommen und viel erlebt
Auch heute stolpert man hier noch an jeder Ecke über hölzernes Kunsthandwerk. Die Grödner Puppe aber ist nur bei Judith Sotriffer daheim. Bevor sie von der Bildhauerin wiederentdeckt wurde, war sie mehr als 70 Jahre untergetaucht. Wirtschaftliche Zwänge brachten in den 1930er-Jahren das Aus für die Spielzeugproduktion in Gröden; mit ihr verschwand auch die Puppe. Doch zuvor hatte die hübsche Maid ein bewegtes Leben geführt, war weit herumgekommen und hatte allerhand erlebt.
„Die Grödner waren bei aller Abgeschiedenheit einfallsreiche und weltoffene Leute. Sie gingen hinaus aus ihrem Tal und machten Geschäfte“, erzählt Judith Sotriffer. Im Gepäck – oder besser gesagt in ihrer Kraxe, die sie auf dem Rücken trugen – hatten sie auch die Grödner Puppe. Später übernahmen große Verlegerfirmen den Vertrieb in alle Welt. Besonders beliebt war die Puppe in Amsterdam, wo man sie kurzerhand einbürgerte und als „Dutch Doll“ bis in weitentfernte Kolonien verkaufte.
Trotz aller Popularität blieb sie aber stets ein einfaches Mädchen aus dem Volk – geschnitzt aus Zirbelkiefer, mit weiß bemalten Armen und Beinen. „Damit wollte man die teuren Porzellanpuppen imitieren“, weiß Judith Sotriffer. „Und alles muss beweglich und doch fix sein. Die Grödner Puppe ist quasi die Urgroßmutter der Barbie.“
Das Alter merkt man ihr gar nicht an, wie sie jetzt mit ihren Freundinnen so jungfräulich auf der Werkbank liegt. Mithilfe einer Schablone und einer Bandsäge hat die Bildhauerin die Umrisse aus dem Holz geschnitten. Dann werden Kopf und Körper gedrechselt, Arme, Beine und die Nase geschnitzt.
Mühelos, fast meditativ mutet es an, wenn Judith Sotriffer das Stemmeisen ansetzt und die Holzspäne wie fallende Blätter auf den Boden segeln. Hündin Dana blickt nur kurz auf, als die Locken ihre Nase streifen, und vergräbt dann den dunklen Kopf wieder zwischen den Pfoten.
Die Holzarbeiten erledigt Judith Sotriffer in ihrer mehr als 500 Jahre alten Werkstatt, wenige Gehminuten von der Galerie entfernt. Auf Traditionen gibt sie viel, liest alles zur Geschichte des Grödnertals und sucht in Archiven nach historischen Vorlagen für ihr Holzspielzeug. Und immer hält sie Ausschau nach alten Puppen, eine Leidenschaft, die sie mit ihrer Mutter teilt.
Holzmäuse fürs eigene Haus
Überhaupt haben sich die familiären Anlagen bei Judith Sotriffer durchgesetzt: Die Mutter verkauft Spielzeug, der Vater war der bekannte Bildhauer Guido Sotriffer. Für die Jüngste von vier Schwestern war klar, welchen Weg sie gehen wollte: „Unsere Familie hat immer Spielzeug gemacht. Schon mein Großvater schnitzte Pinocchios, und mein Urgroßvater konnte sich mit dem Geld, das er mit dem Verkauf von Holzmäusen einnahm, sogar ein Haus bauen.“
Dabei war Spielzeug aus Gröden kein Luxusprodukt. Ganz im Gegenteil: War etwa eine Puppe kaputt, wurde sie kurzerhand in den Ofen gesteckt und verheizt. Produziert wurde in großen Stückzahlen, und die Arbeit sicherte vielen das Überleben in der kargen Bergwelt. Auch die Kinder mussten ihren Teil zum Broterwerb beitragen. Vor allem beim Schnitzen der oft nur wenige Zentimeter großen Puppen waren ihre kleinen Hände ein Vorteil.
Fingerfertigkeit zeichnete jedoch alle Holzhandwerker aus dem Grödnertal aus. „Anderswo, etwa im Erzgebirge, gab es gute Drechsler, doch die Stärke der Grödner war immer das Schnitzen“, weiß Judith Sotriffer. Das Verkaufen der Ware war vor allem Sache der Frauen: Anfangs gingen sie schwerbepackt die Höfe ab, später mieteten sie Zimmer in größeren Städten, die sie zu Warenlagern umfunktionierten und bis obenhin mit Spielzeug vollstopften.
Anregungen für neue Produkte fanden die sprachgewandten Grödner nicht nur auf ihren ausgedehnten Verkaufsreisen, sondern manchmal auch direkt vor der Haustür: Als im Ersten Weltkrieg quer durchs Tal eine Bahnstrecke von Klausen bis Plan gebaut wurde, waren dort viele russische Arbeiter im Einsatz. Durch sie lernten die Grödner die Matrjoschkas, die dickbauchigen Schachtelpuppen, kennen und übernahmen das Prinzip. Auch orientalische Einflüsse sind erkennbar, manchmal in kuriosen kulturübergreifenden Kombinationen: beim Elefanten in Lederhosen etwa oder beim Hampelmann mit Turban.
Brennholz per Post
Anfangs waren die Holzfiguren unbemalt, die Grödner mussten sich erst Schritt für Schritt an die richtige Mischung der Leimfarben herantasten. Doch sie lernten schnell, und sie lernten gut. Judith Sotriffer arbeitet heute mit speichelechter Acrylfarbe – denn kleine Puppenliebhaber finden ihr Spielzeug buchstäblich zum Anbeißen. Und lieben die Grödner Puppe auch in Zeiten von Plastik und PC, „weil sie Raum lässt für Fantasie“, sagt die Bildhauerin, selbst Mutter dreier erwachsener Söhne.
Auch ihr fehlt es sichtlich nicht an Vorstellungskraft. Doch letztlich „ist es nur die Leidenschaft, die uns weiterbringt“, meint Judith Sotriffer und erzählt zum Abschied eine Geschichte: Einst trat ein Grödner die weite Reise nach Wien an. Es war die Neugier, die ihn trieb. Regelmäßig bestellte ein Herr große Mengen seiner Puppen, der Spielzeugmacher vermutete dahinter einen Sammler, den er kennenlernte wollte.
Die Adresse erwies sich aber als wenig nobel. Über abgewetzte Stufen ging es hinauf in eine Kammer unterm Dach. Dort saß ein verhutzeltes Männchen und wärmte sich die dürren Hände am Ofen. Im Brennholzkorb lagen Puppen, Grödner Puppen, zum Verheizen bestimmt. Das, so meinte der Alte, sei billig und bequem dazu, komme das Brennholz doch stets pünktlich mit der Post.
Judith Sotriffer kann über diese Anekdote herzlich lachen. Dann nimmt sie das Stemmeisen zur Hand, setzt ihre rote Brille auf und macht sich wieder ans Werk.